Pestalozzi

Das Eindrücklichste an Pestalozzis Philosophie ist für mich seine Gliederung des Menschen in das tierische, das gesellschaftliche und das sittliche Wesen. Der tierische Zustand als der überlebensnotwendige, der gesellschaftliche als der praktische und schliesslich der sittliche als der höchste, nur dem Menschen mögliche Zustand. Dieser letzte, anstrebenswerte Zustand bedingt aber das Vorhandensein der beiden anderen Zustände.

Im Gegensatz zum tierischen Zustand, welcher das Überleben ermöglicht, und dem gesellschaftlichen Zustand, welcher ermöglicht, in einem geordneten Umfeld zu leben (Goldene Regel: «Was ihr nicht wollt, dass man euch zufügt, fügt es anderen nicht zu.») und in der Zivilisation vom Gesetz gehütet wird, ist das Streben zum sittlichen Zustand freiwillig. Um ihn zu erreichen, bedarf es Arbeit an sich selbst.

Was macht den Menschen denn aus? Soll sein Ziel ein möglichst komfortables Leben sein? Oder soll es geprägt sein vom Streben zum Höheren - und dessen Saat?


Erste Darlegung meines wesentlichsten Gesichtspunkts

(aus: J. H. Pestalozzi: «Meine Nachforschungen»)

... Es ward mir immer heiterer - der Mensch, oder vielmehr ich selbst stelle mir Wahrheit und Recht wesentlich ungleich vor, wenn ich empfinde, denke und handle, wie der Mensch ohne Zwang und Gewalt immer empfindet, denkt und handelt - oder wenn ich empfinde, denke und handle, wie der Mensch durch die Kunst und den Zwang des bürgerlichen Lebens zu empfinden, zu denken und zu handeln lernt.

Oder endlich, wenn ich empfinde, denke und handle, wie ich soll, wenn ich meine innere Unabhängigkeit von meiner tierischen Begierlichkeit und von meinen gesellschaftlichen Ansprüchen als Fundament meines Urteils über Wahrheit und Recht anerkenne.

Es schien mir heller - Wahrheit und Recht kommen mir in einem ungleichen Licht vor, wenn ich meinen Instinkt - oder wenn ich meine bürgerlichen Anmaßungen - oder wenn ich die Übereinstimmung mit dem Edelsten und Besten, das ich zu erkennen vermag, in mir selbst zum Fundament meines Urteils über Wahrheit und Recht anerkenne. Ich glaubte jetzt, ich müßte den Aufschluß der Widersprüche, die in meiner Natur zu liegen scheinen, in diesem wesentlichen Unterschied der Vorstellungsart von Wahrheit und Recht, deren meine Natur fähig ist, suchen.

Nähere Bestimmung dieses wesentlichen Gesichtspunkts

Ich nahm also an, der Mensch, oder vielmehr ich selbst stelle mir die Welt auf drei verschiedene Arten vor, und deswegen sei die Vorstellung von Wahrheit und Recht in mir selbst im Gefolge dieser dreifachen Gesichtspunkte wesentlicn verschieden; ich erschaffe mir durch einen jeden derselben in mir selbst eine für denselben ausschließlich passende Vorstellung von Wahrheit und Recht.

Also habe ich in mir selbst eine tierische Wahrheit, das ist, ich habe in mir selbst eine Kraft, alle Dinge dieser Welt als ein für mich selbst bestehendes Tier anzusehen.

Ich habe eine gesellschaftliche Wahrheit, das ist, ich habe eine Kraft, alle Dinge dieser Welt als ein mit seinen Nebenmenschen in Vertrag und Verkommnis stehendes Geschöpf anzusehen.

Ich habe eine sittliche Wahrheit, das ist, ich habe eine Kraft, alle Dinge dieser Welt unabhängig von meinen tierischen Bedürfnissen und von meinen gesellschaftlichen Verhältnissen gänzlich nur in dem Gesichtspunkt, was selbige zu meiner innern Veredelung beitragen, ins Auge zu fassen.

Also habe ich hinwieder ein tierisches Recht, das ist, es entspringt aus der Art und Weise, wie ich alle Dinge dieser Welt als ein für mich selbst bestehendes Tier ansehe, ein allgemeines, unwillkürliches und einfaches Bedürfnis, auf dieselben, zu Folge dieses Gesichtspunkts, einen tierischen Anspruch zu machen.

Ich habe ein gesellschaftliches Recht, das ist, es entspringt aus der Art und Weise, wie ich alle Dinge dieser Welt als ein in Verkommnissen und Vertrag stehendes Geschöpf ansehe, ein allgemeines, unwillkürliches und einfaches Gefühl, wie ich auf alle diese Dinge, im Gefolg dieses Gesichtspunkts Ansprüche machen darf und Ansprüche machen soll.

Ich habe ein sittliches Recht, das ist, es entspringt aus der Art und Weise, wie ich alle Dinge dieser Welt unabhängig von meinen tierischen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Verhältnissen ins Auge fasse, ein allgemeines, unwillkürliches und einfaches Gefühl, daß ich alle diese Dinge gänzlich nur nach dem Maßstab ihres Einflusses auf meine innere Veredelung begehren oder verwerfen soll. ....